Flachsanbau im Allgäu
Bis nahezu Mitte des 19. Jahrhunderts war das Allgäu vom Flachsanbau geprägt. Angesichts der unzähligen Flachsfelder mit ihren blauen Blüten war auch vom blauen Allgäu die Rede.
Die Faser der Flachspflanze wurde in vielfältigen Arbeitsschritten zu feinem Leinen verarbeitet. Die qualitativ hochwertigen Allgäuer Leinenstoffe waren in aller Welt bekannt und gerne gekauft. Ein wichtiger und für das Oberallgäu zentraler Handelsmarkt für Leinen war Immenstadt. Hier wurden zu den Handelstagen die Leinenstoffe der Weber aus dem oberen Allgäu taxiert und zu Tagespreisen angekauft. Die jeweilige Nachfrage bestimmte den Preis und damit die Entlohnung des Leinewebers, der oftmals eine kinderreiche Familie zu ernähren hatte, ohne deren Hilfe er die harte Arbeit übers Jahr nicht hätte bewältigen können.
Sähen
Das Jahr begann, je nach Witterung, Ende April, Anfang Mai mit dem Aussähen des Flachssamens. Nach einigen Tagen, wenn der Samen aufgegangen war, wurden die Felder sorgfältig von Unkraut befreit. Das Jäten war eine mühsame und besonders für den Rücken anstrengende Arbeit, bei der alle Hände, auch der Kleinsten, gebraucht wurden.
Danach konnte der Flachs ungehindert heranwachsen und in seiner Blüte das ganze Land blau einfärben, bis Ende Juli die kleinen Blätter anfingen zu vergelben und anzeigten, daß der Flachs reif zum Raufen war.
Raufen
Zum Raufen des Flachses durfte der Boden weder zu weich noch zu fest sein; es durfte erst dann geschehen, wenn der Regen und Tau vom Flachs völlig abgetrocknet war. Zuerst raufte man ringsum die Ränder. Damit der Flachs nicht verworren und die Arbeit möglichst erleichtert wird, war nach der Richtung zu raufen, nach welcher der Flachs hing. Beim Raufen sollte der Flachs von an den Wurzeln haftender Erde durch Schütteln befreit und gleich nach der Länge geordnet werden. Damit kein Unkraut unter die Flachsstengel kam, mußte man diese in der Mitte anfassen und aus dem Boden ziehen.
Trocknen
Anschließend stellte man den den gerauften Flachs zum Trocknen zu sogenannten Kapellen zusammen. Dabei wurden die Flachsstengel mit der Wurzel am Boden aufgestellt und am oberen Knotenenden schräg aneinandergebunden. Dieser Vorgang wurde mit weiteren Bündeln wiederholt, bis die großen Kapellen entstanden, die in ihrer Form geradezu einem indianischen Wigwam ähnlich waren. An Pfählen gegen Windeinwirkung gesichert, be-wirkte das Setzen in Kapellen ein vollständiges Nachreifen des Samens und Schwitzen des Bastes, wodurch das Material an Geschmeidigkeit und Milde gewann. Dieser Prozeß war etwa nach 14 Tagen abgeschlossen.
Flachsreffen
Nach der Trocknung wurden mit der Riffel die Samenkapseln von den Stengeln gelöst. Hierzu zieht man den oberen Teil des Pflanzenbündels durch ein kammartig besetztes Brett, die Riffel. Die Samenkapseln werden anschließend getrocknet und gedroschen. Damit war der Leinsamen gewonnen, der in Öl-mühlen zu Leinöl geschlagen wurde.
Flachsröste
Die verbleibenden Stengel wurden wieder gebündelt und zum Teichen vorbereitet. Dabei wurden die Bündel in einen Teich oder Gumpen geschichtet, mit Steinen und Brettern beschwert und so unter Wasser gehalten. Die Flachsstengel bestanden aus langen Bastfasern. Der durch Mikrorganismen bewirkte Fäulnisvorgang im Gumpen (=Teich) hatte den Zweck, die gummiartige Substanz zu entfernen, die sich zwischen dem Bast, dem holzigen, innen hohlen Stengel und der äußeren Rinde befand. Die Zersetzung des gummi-artigen Pflanzenschleims machte die Holzteile des Stengels mürbe, so daß sie sich leicht von der Faser lösen ließen. Jetzt begann die eigentliche Röste, indem der Flachs an der Sonne geröstet wurde bis er ausreichend brüchig war. Danach, wieder in Bündeln geschichtet, wurde er etwa von Mitte August bis Anfang September nochmals gesonnt. Das Gebiet, auf dem unser Haus heute steht, war dank seiner vielen kleinen Gumpen und seiner überaus sonnigen Lage die Flachsröste von Oberstdorf, deren Namen sich bis heute erhalten hat.
Boken und Brechen
In der Flachsbreche brach man die Stengel in mehreren Arbeitsgängen unzählige Male, bis der größte Teil des holzigen Gewebes entfernt war und eine zur Weiterverarbeitung geeignete weiche Faser übrig blieb.
Schwingen
Mit dem Schwingen wurden die verbliebenen Verunreinigungen aus der Faser herausgeholt. Zu diesem Zweck befestigte man den Flachs handvollweise am Schwingstock, drehte ihn fortwährend mit der linken Hand von oben nach unten, nach allen Seiten mit dem aus Buchenholz gefertigten Schwingmesser, das mit einer scharfen Schneide ausgestattet war. Die Faser war jetzt bereit zum Hecheln.
Hecheln und Ribben
Das Hechel bewirkte eine weitere Verfeinerung der Faser und diente zum Entfernen der unreinen Flachsteile.
Der Hechelbock war ein leichtes Holzgestell mit zwei Holznuten, zwischen die das Hechelbrett (etwa 65 cm lang und 14 cm breit) geschoben wurde. Dieses trug ein oder zwei flache Kästen, die dicht mit 5 cm hohen eisernen Zinken besetzt waren.
Wollte man feine seidige Fasern haben, so wurde der gehechelte Flachs noch geribbt. Dazu gebrauchte man ein etwa 50 mal 50 cm großes Stück Kernleder und das Ribbeisen. Das Stück Leder legte man sich auf die Knie, hielt darauf das Flachsbündel und schabte mit dem Eisen darüber. Durch mehrmaliges Drehen und Wenden sorgte man dafür, daß jede Faser getroffen wurde.
Am Ende dieses Arbeitsganges wurde die Flachsfaser in sogenannte Wocken zusammengefaßt und war zur Weiterverarbeitung bereit. In den langen Tagen der Wintermonate war das Spinnrad ununterbrochen in Betrieb und aus dem fertigen Garn entstand bis zum Frühjahr an den Webstühlen das begehrte Leinen, das auf den Märkten, wie zum Beispiel in Immenstadt, auf Qualität geprüft und in alle Welt verkauft wurde.
Die Erfindung der Dampfmaschine und die weitaus preisgünstigere Produktion der Baumwolle in den USA setzten dem Broterwerb der Allgäuer Leineweber ein jähes Ende und führten zur weitgehenden Verarmung der Bevölkerung. Viele wollten den Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise entfliehen und entschlossen sich, zusammen mit vielen anderen, deren Existenz durch die fortschreitende Industrialisierung in Europa gefährdet war, ihr Glück in den Vereinigten Staaten, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, zu suchen.
In dieser Zeit gelang es dann Karl Hirnbein aus Missen-Wilhams seine Idee von einer flächendeckenden Viehzucht und Milchwirtschaft im ganzen Allgäu umzusetzen und die daheim gebliebenen konnten innerhalb kürzester Zeit eine neue Existenz mit Viehhandel und Verkauf von Milchprodukten, wie den zwischenzeitlich weltbekannten Allgäuer Käse, aufbauen.
Aus dem blauen war das grüne Allgäu geworden, wie wir es heute auch als wichtige Grundlage für den Allgäuer Tourismus kennen.